Was ist kulturelle Aneignung?

Asiatische und weiße Frau essen mit Stäbchen aus einer Schüssel

Wie du mit deinem Verhalten anderen Kulturen unbewusst wehtust und was du dagegen tun kannst

Ein Gastbeitrag von Bahar Erdogan

Darauf hast du dich lange vorbereitet. Alles bis ins Detail geplant und organisiert. Von diesem Festival hast du schon so lange gehört und du willst ein Teil davon sein, die Erfahrung und Kultur erleben. 

Alles so aufregend! Bald ist es soweit und du nimmst am farbenfrohen Holi Festival teil. Du freust dich auf die verschiedenen Elemente und die Eindrücke einer anderen Kultur, die dich faszinieren. Du kannst es kaum erwarten, all diese Eindrücke mit nach Hause zu nehmen. 

Eine Frage nagt da jedoch. Was meinten deine Freund*innen, wenn sie fragten: 

“Machst du das nur so aus Spaß? Bedeutet das nicht irgendwas mit den Farben? Ist ja cool, aber keine Ahnung, ob es richtig ist.” 

Jetzt bist du leicht verunsichert… 

Die Welt ist bunt und wächst zusammen. Wir erleben viele Eindrücke von den verschiedensten Kulturen. Sie wecken das Interesse und manches finden wir so gut, dass wir es bewusst oder unbewusst übernehmen. Wir denken uns einfach nichts dabei. Sei es Frisuren oder Kleidungsstücke.

Wovon ist hier die Rede, magst du dich bereits fragen.

Wir bewegen uns hier im Themenbereich von kultureller Aneignung.

 

Was ist kulturelle Aneignung? 

Es gibt viele Versuche, die Begrifflichkeit “Kulturelle Aneignung” zu definieren. Etwa, dass Mitglieder einer dominanten Kultur Elemente einer anderen Kultur übernehmen, die von dieser dominanten Gruppe systematisch (historisch) unterdrückt wurden. Dabei werden traditionelles Wissen, kulturelle Artefakte oder symbolische Ausdrucksformen entliehen, ohne ihnen eine angemessene Anerkennung oder Respekt zu zeigen. 

Besonders in den USA, wo historische Faktoren wie Rassentrennung, Genozid und Sklaverei eine wichtige Rolle spielen, ist die Diskussion um kulturelle Aneignung stark ausgeprägt. Ein Beispiel ist Kim Kardashian, die als Amerikanerin mit der Nutzung des Wortes Kimono in ihrer Shapewear für Aufregung und einen Shitstorm sorgte. 

Aber warum sorgte Kim Kardashians sogenannter Kimono für Aufregung? 

Ein Kimono ist ein bedeutendes Bekleidungsstück, das ursprünglich aus der japanischen Kultur stammt. Es gibt verschiedene Arten, die sich weiterentwickelt haben. Farben und Muster haben spezifische Bedeutungen und die Träger*in ist definiert. Hier wurde der Kimono jedoch zweckentfremdet – ist also gar kein Kimono – und für etwas ganz anderes eingesetzt.

Kim Kardashian Tweet zu Kimonos

Aber erneut zur Definition. 

Kulturelle Aneignung wird von der afroamerikanischen Autorin Maisha Z. Johnson wie folgt definiert: 

„Bezug auf eine bestimmte Machtdynamik, in der die Mitglieder einer dominanten Kultur sich Elemente einer Kultur nehmen, deren Angehörige durch die dominante Gruppe systematisch unterdrückt wurden“. 

Hier sticht hervor, dass es nicht immer als etwas Positives wahrgenommen wird. Wenn du Dreadlocks trägst, ein Kimono oder dich als indigene Person verkleidest, könntest du dich unbewusst gefragt haben: 

“Was mach’ ich da eigentlich?”, 

“Was bedeuten diese Elemente für mich, was drücke ich damit aus?” 

Vielleicht ist es jetzt das erste Mal, dass dir die Thematik so begegnet, du gar jetzt damit konfrontiert wirst. Vielleicht denkst du, dass es nicht in Ordnung ist, unreflektiert Kleidung, Praktiken und Handlungen anderer Kulturen zu übernehmen. Es ist wichtig zu wissen, dass es für Gruppen in der Minderheit vielleicht nicht angenehm ist und Bilder und Erfahrungen hervorgebracht werden, die sie an ein historisches Trauma erinnern. Ein Beispiel dazu sind Dreadlocks.

Eine weiße Person trägt Dreadlocks. Kulturell sind sie nicht Teil der Person und nehmen wir an, die weiße Person findet sie toll oder kreiert einen eigenen Stil damit. Aber weiß sie, was hinter dieser “Frisur” steckt? 

Aus dem Englischen übersetzt, bedeutet Dreadlocks “Furchtlocken”. Sie stellten ein religiöses Symbol dar und wurden von den Rastafari Krieger*innen aus Kenia etabliert. Den Rastafari Anhänger*innen dienten die Dreadlocks, um den Kolonialisten Angst einzuflößen und sich von ihren weißen Unterdrückenden abzugrenzen. Greg Tate schrieb in seinem Buch (unsere Buchempfehlung für dich gleich am Ende dieses Artikels 🙂), dass Dreadlocks die Bürde jahrhundertelang verweigerter Bürgerrechte, Rassismus und Armut in sich trägt. 

Das Thema lastet schwer auf der Seele. 

Mach dir aber keine Sorgen. Der erste Schritt ist es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Dafür geben wir dir einige Infos mit an die Hand.

 

Was kulturelle Aneignung ausmacht

Kulturelle Aneignung zeichnet sich durch eine bestimmte Machtdynamik aus, in der dominante Kulturen Elemente anderer Kulturen für ihren eigenen Nutzen verwenden. Aber ohne die Bürden der Diskriminierung und Unterdrückung zu tragen, die Angehörige der fremden Kultur erfahren. 

Dabei kann es zu Verletzungen von kultureller Bedeutung und Identität kommen, wo die Gefühle und Würde der Betroffenen missachtet werden.

Wann kulturelle Aneignung problematisch wird

Kulturelle Aneignung wird problematisch, wenn sie dazu führt, dass Sitten, Bräuche oder heilige Symbole anderer Kulturen lächerlich gemacht oder ausschließlich kommerzialisiert werden.

Hierbei geht es darum, dass dies durch Unternehmen geschieht, die nicht mit der Kultur verbunden sind oder ihr angehören. Das Tragen von bestimmten Frisuren oder Kleidungsstücken, die für eine Kultur eine tiefere spirituelle Bedeutung haben, ohne diese zu respektieren, kann als Aneignung empfunden werden. Es ist entscheidend, die Gefühle und Bedeutung anderer Menschen zu respektieren und keine kulturelle Entfremdung zu verursachen.

Die Künstlerin und interkulturelle Mediatorin Yvonne Apiyo Brändle-Amolo hat ihre Ansicht und ihre Emotionen sehr eindeutig formuliert: 

„Tragen wir Schwarzen einen Afrolook oder Dreadlocks, dann gilt die Frisur als ungepflegt. Sobald aber Kim Kardashian Cornrows trägt, ist es ein Riesentrend.“

Lass uns einige Beispiele betrachten.

 

Turban, Federschmuck und Dreadlocks getragen von weißen Personen auf Fashion Shows

Haarschmuck und Kopfbedeckung
Credit: Getty Images, Artikel “Does Fashion have a cultural appropriation problem?” von bbc.com  
 
Indigene Kleidung auf Laufsteg
Indigene Kleidung
Credit: Medium Artikel von Annelise DeRoche 
 
Kleidung, die schwarze Haut auf weißer Person immitiert
Aussehen und Hautfarbe
Credit: Design von Gucci, Blogbeitrag von Jess Kirkbride auf Adzooma

 

Wichtig ist, dass du deine Motivation und Werte kennst. Vielleicht hast du Gemeinsamkeiten oder bist Teil einer Gruppe. Deshalb ist es wichtig zu betonen, dass es auch den Aspekt des kulturellen Austausches gibt.

 

Kultureller Austausch oder kulturelle Aneignung. Was ist der Unterschied?

Kultureller Austausch und kulturelle Aneignung sind hier zwei unterschiedliche Dinge. Kultureller Austausch geschieht auf respektvolle und wechselseitige Weise, wenn verschiedene Kulturen ihre Ideen und Praktiken miteinander teilen, ohne dass eine Kultur über die andere dominiert. Hierbei findet eine Anerkennung und Wertschätzung der kulturellen Vielfalt statt.

Kurze Erinnerung an unser Holi Festival: 

Mit der Teilnahme am Holi Festival könnte somit auch die Absicht eines kulturellen Austausches beabsichtigt sein. Wo du deine Wertschätzung zum Ausdruck bringen möchtest. Und dies, indem du am mit deinen Freund*innen und Bekannten am Fest teilnimmst.  

 

Warum ist das Thema so stark im Diskurs?

Kulturelle Aneignung ist ein Thema, das im gesellschaftlichen Diskurs eine hohe Relevanz hat, insbesondere in Bezug auf Mode und Konsum. Die enge Verknüpfung von Kapitalismus und Rassismus spielt dabei eine entscheidende Rolle. 

Im Kapitalismus wird Kultur oft zu einem konsumierbaren Gut gemacht, und als “exotisch” vermarktete Symbole finden reißenden Absatz. Die Profitgier von Unternehmen kann dazu führen, dass kulturelle Elemente entwertet und für politische Zwecke unbrauchbar gemacht werden, während die Ursprungscommunitys selten von den erzielten Gewinnen profitieren. Nicht nur aus finanzieller Sicht.

 

Kritik und Missverständnisse an kultureller Aneignung

In der Diskussion um kulturelle Aneignung gibt es auch Kritik und Missverständnisse.

Einige argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Aneignung und Anerkennung schwierig sein kann. Wenn du beispielsweise aus der Dominanzkultur stammst, dann solltest du dir bewusst machen, dass du nicht über andere Kulturen urteilen und Minderheiten nicht immer verteidigen kannst, ohne selbst betroffen zu sein. 

Die Auseinandersetzung mit deiner eigenen Rolle und Verantwortung ist dabei von großer Bedeutung. Denn es gibt viele Personen, die sich für die Minderheiten einsetzen wollen, gleichzeitig jedoch ihnen die Stimme wegnehmen können oder künstliche Probleme schaffen. 

Kulturelle Aneignung ist ein wichtiges Thema, das uns dazu anregt, aufmerksamer und respektvoller gegenüber der kulturellen Vielfalt zu sein. Es geht darum, sich bewusst zu machen, welche Bedeutung und Wirkung "Verkleidungen" haben, die auf andere Kulturen als die eigene anspielen. 

Kultureller Austausch und Anerkennung sind erstrebenswert, solange sie auf respektvolle und wechselseitige Weise geschehen. Du kannst dich unter anderem bewusst mit kultureller Aneignung auseinanderzusetzen und für eine Welt einstehen, in der Vielfalt und Respekt im Vordergrund sind. 

Es gibt da draußen viele Designer*innen, Creator*innen und Künstler*innen, die ihre eigene Kultur als Inspiration nutzen und Werke wie auch Mode schaffen ohne die Elemente komplett umzuwandeln. Sie nutzen bestimmte Farben, Muster oder Formen für ihre Designs und produzieren bewusst Produkte für die breite Masse. 

Das heißt, sie sind dafür beabsichtigt, dass sie jede*r tragen kann und die Creator*innen freuen sich in der Regel, wenn andere ihre Werke ebenso feiern. "Mehr Vielfalt in deinem Kleiderregal" oder "Mehr Vielfalt im Kinderzimmer" sind da beliebte Slogans. 

Problematisch wird es allerdings, wenn z.B. eine weiße Person eine Creme für dunkle Hauttypen herstellt und dies als Innovation darstellt, während es bereits betroffene Gründer*innen gibt, die dies seit Jahren machen.

Bei vollefarben.de schauen wir daher genau hin und fragen bei unseren Verkäufer*innen nach einem Disclaimer, wenn sie kulturelle Aneignung vermuten und geben Hintergrundinfos zu den verwendeten Mustern und kulturellen Elementen, damit du dich kritisch damit auseinandersetzen und problemlos in unserem Shop einkaufen kannst.

Du kannst also ganz unproblematisch auf vollefarben Chalé Socks mit afrikanischen Mustern tragen oder Kimonos aus Kenia bestellen. Oder wie es die Gründer*innen selbst schreiben: 
 

"Seriously, we're happy about every person wearing our stuff. If you love it, you love it!"

 

Tipps und Recap 

💚 Wenn du traditionelles Wissen, kulturelle Artefakte oder symbolische Ausdrucksformen von anderen Kulturen übernimmst, kannst du die betroffene Gruppe verletzen

💚 Berücksichtige die Gefühle der Gruppe und denke an angemessene Anerkennung oder den Respekt, den du zeigen möchtest. 

💚 Entwickle ein Bewusstsein für das Thema

💚 Informiere dich (online, Bücher - siehe unten einige Empfehlungen)

💚 Unterstütze die Schaffenden der betroffenen Kultur, zeige Interesse, trete in Kontakt 

💚 Kaufe Produkte von den Künstler*innen, Designer*innen, etc., die ihre Kultur vertreten, z.B. auf vollefarben.de

 

 

 

 

Hat dich das Thema gepackt? Hier noch einige Buchempfehlungen:

📚 Kulturelle Aneignung von Lars Diestelhorst

📚 Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche von Reni Eddo-Lodge.

📚 Blackfacing, Karneval und die Folgen von Fatima Moumouni

📚 The Appropriation of Culture von Michael Omi und Howard Winant

📚 Everything but the Burden von Greg Tate