9 Fragen an rassismuskritische Heilpraktikerin Öznur Acar

Rassismuskritische Heilpraktikerin in München Öznur Acar im Interview

Öznur, wie bist du zur Heilpraktikerin geworden? Das und viele weitere Fragen haben wir Heilpraktikerin Öznur Acar im Interview gestellt.

Die ehemalige Apothekerin praktiziert Naturheilkunde als Ergänzung zur Allgemeinmedizin in ihrer rassismuskritischen Praxis im Tölzer Land (Bayern). 

 

Wer ist Öznur Acar und wie bist du zur Heilpraktikerin geworden?

Öznur Acar ist ein türkisches Gastarbeiterkind zweiter Generation. In München geboren und aufgewachsen, haben meine Eltern beschlossen, in die Türkei zurückzukehren. Ich wurde mit meinem jüngeren Bruder Timur mitgenommen. Mit einem Elternteil erstmal. Mit 21 beschloss ich nach München zurückzukehren. Mein Vater nahm mich mit und ich musste als junge Erwachsene nochmal neu anfangen. Das war hart! Ich studierte Pharmazie, begann in der öffentlichen Apotheke zu arbeiten und wurde aber im Laufe der Zeit dort zunehmend unglücklicher. So beschloss ich mehr zu machen und legte berufsbegleitend eine Ausbildung zur Heilpraktikerin drauf und reduzierte immer mehr den Apothekenjob.  Ich tastete mich mit stundenweisem Einmieten in Gemeinschaftspraxen langsam heran und es gefiel mir immer mehr.

 

Wie würdest du den Berufszweig für Menschen beschreiben, die noch keine Berührungspunkte damit hatten?

Ich würde es kurz und bündig als gute Ergänzung zu den Anteilen beschreiben, die im aktuellen Gesundheitssystem fehlen. Die Heilpraktiker-Leistungen greifen sehr gut in diese Lücken hinein.

Heilpraktiker*innen werden schnell mit Esoterik und Laienmedizin in Verbindung gebracht. In der Branche gibt es auch tatsächlich viele problematische Personen und Inhalte. Wie siehst du die Verbindung zwischen deinem Ansatz und dem der Allgemeinmedizin? Inwiefern ergänzt es sich bzw. grenzt sich voneinander ab?

Ich habe das auch sehr intensiv in der Coronaphase beobachtet. Meinungen wie z.B. „Diejenigen, die sterben, sind selber schuld! Hätten sie sich besser ernährt und gesünder gelebt“ oder „Wenn man 90 ist, ist man doch alt genug. Will man 100 werden?“, „es sind die Älteren und Vorbelasteten gestorben“ und die ewigen Diskussionen „ob man mit oder an Corona gestorben ist“, sind gefährlich und grenzen an darwinistisches Euthanasiegedankengut, welches besagt, dass, „die Schwächeren eh nicht überleben sollen!“. Aber Vielen fällt das gar nicht mehr auf. Und das ist noch gefährlicher. Somit muss man wirklich aufpassen.

Ich biete auch erfahrungsheilkundliche Angebote an. Die ganze traditionelle Naturheilkunde funktioniert durch eine gewisse Unschärfe. Wie ein Bild der „Blauen Reiter“. Wenn man ein paar Schritte zurückgeht, sieht man die Gesamtheit des Bildes. Das ist die Stärke der traditionellen Naturheilkunde. Und sie ergänzt den ganzheitlichen Blick, der in der modernen Medizin momentan fehlt. Ich gewinne durch meine Beobachtungen auch viele Erkenntnisse über die Persönlichkeit und der Wesensart der Patient*innen.

Gleichzeitig bin ich aber auch ein großer Fan von Wissenschaft und den wichtigen Errungenschaften der Medizin, wie z.B. Notfallmedizin, lebensrettende und erhaltende Maßnahmen jeglicher Art; inklusive vieler Medikamente wie z.B. Cortisol und Adrenalin. Aber auch Insulin, Impfungen und viele mehr.  

Es ergänzt sich somit sehr gut! Ich bin auch verpflichtet, unklare Fälle abzuklären, Notfälle ganz klar zu erkennen und weiterzuschicken an Ärzt*Innen. Über diese Möglichkeit bin ich sehr froh.

Ich kombiniere auch selbst gerne moderne Methoden wie Labormedizin oder invasive Konzepte wie Aufbauinfusionen, Injektionen und weitere mit der alten Heilkunde. Denn die immer komplexer werdenden Lebensumstände der modernen Gesellschaft erfordern dies.

 

In welcher Hinsicht beeinflusst / inspiriert dich dein türkischer Background bei deinem Wirken als Heilpraktikerin?

Ich habe traditionelle abendländische Heilkunde erlernt. Im Mittelalter ist diese Medizin auch mal kurzfristig abgewandert in das „sogenannte Morgenland“ und hat sich mit dem Wissen der Mediziner der Blütephase des Fernen Ostens und des Orients vermengt. Avicenna und Ar Razi faszinieren mich. Nach dem Mittelalter ist es wieder nach Europa zurückgekehrt. Es ist sozusagen gar nicht mal so abendländisch. Es ist eher multikulturell! Darin habe ich mich gut wiedererkannt.

Gleichzeitig habe auch ich in Sachen Rassismus viel dazulernen können (…). Jetzt sehe ich mich als jemanden, die diese Erkenntnisse in eine rassismuskritische Praxis einbauen kann.

 

Aber es ist immer noch eine Domäne der „alten weißen Männer“ (lach). Da habe ich sehr große Vorwürfe von meinem Aktivist*innen-Umfeld bekommen; auch in Verbindung mit dem, was man so in den Anti-Corona Demos gesehen hatte. Ich muss gestehen, dass ich kurzfristig, bei diesen Bildern, auch überlegt habe, die Heilpraktiker*innen-Tätigkeit an den Nagel zu hängen. Ich habe aber auch erkannt, wie gut ich bis jetzt Menschen helfen konnte; auch in Verbindung mit Ärzt*innen. Und ich habe den Wert meiner Arbeit mehr in den Vordergrund gerückt. Gleichzeitig habe auch ich in Sachen Rassismus viel dazulernen können (Danke an alle Aktivist*innen im Netz! So habe ich wirklich jede Ecke beleuchten können im Unterbewussten). Jetzt sehe ich mich als jemanden, die diese Erkenntnisse in eine rassismuskritische Praxis einbauen kann.

Mir gelingt diese Fusion immer besser finde ich. Als Apothekerin habe ich auch einen stabilen schulmedizinischen Background. Beste Kombi, wie ich finde.

 

Der Einstieg als Heilpraktikerin war sicherlich nicht einfach für dich. Gibt es einen Moment, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Puh… Ich wollte oft hinwerfen. Denn erstens hat die Gesellschaft komische, falsche Vorstellungen von Erfolg. Erfolg bedeutet auch Scheitern, Misserfolge, Irrwege, Tränen, Enttäuschungen. Der Weg dahin ist ein sehr langer Weg und erfordert viel Ausdauer. Und zweitens wurde ich vorerst von meiner Familie und meinen Verwandten gar nicht gesehen. Mein Freundeskreis stand auch nicht dahinter. Keiner hat wirklich an mich geglaubt. Ich selbst oft auch nicht, muss ich gestehen. Ich habe zwei ganz tolle Brüder! Der Ältere ist Kulturaktivist in München und der jüngere ist Schauspieler in Istanbul. Ich war schon immer die Introvertiertere von den beiden sehr extrovertierten Brüdern. Meine Brüder haben mich immer unterstützt. Und ich bin richtig stolz auf die beiden. Aber ich wurde halt auch sehr unsichtbar durch meine Stille; die beiden rückten eher in den Vordergrund. Das ändert sich jetzt und mir ist auch klar geworden, dass ich an mir arbeiten kann und eben sichtbarer werden muss. Mittlerweile gefällt es mir sichtbarer und aktiver zu werden! Meine Brüder inspirieren mich da sehr.

Erfolg bedeutet auch Scheitern, Misserfolge, Irrwege, Tränen, Enttäuschungen. Der Weg dahin ist ein sehr langer Weg und erfordert viel Ausdauer.

Dann gab es sicherlich auch sehr glückliche Momente. Auf welche Erfolge bist du besonders stolz?

Auf absolut erschöpfte Menschen, die ich aufbauen und stabilisieren konnte. Auf meine Schmerzpatientin, die jetzt keine Schmerzen mehr hat. Stolz kann ich das nicht nennen, aber einfach ein gutes Gefühl und Selbstbestätigung. Und Menschen, die ich inspirieren kann mit meinen Blogs, die auch auf Türkisch zu lesen sind. Ich habe einen sehr guten Humor, der gut ankommt. Damit kann ich Menschen gut mitnehmen oder auch rausholen aus ihrem Leid.

Ich bin auch Künstlerin und habe Malprojekte geleitet in Tölz. Zum Beispiel Intuitives Malen für Erwachsene und Kinder. Das war cool. Aber leider ein etwas kleiner Rahmen. Das möchte ich auf jeden Fall weiterführen.

 

Was würdest du Menschen mit Migrationsgeschichte raten, die auch den Beruf der Heilpraktiker*in erlernen möchten?

Dass sie sich nicht irritieren lassen sollen vom strukturellen Rassismus. Mir wurde z.B. empfohlen , dass ich Türk*innen behandeln soll. Oder ich spürte Berührungsängste, bspw. in Ambulatorien, wo man sich gegenseitig behandeln durfte. Im Grunde steckt da die Unsicherheit dahinter, wie man mit jemandem umgehen soll.

 

Wo können sich Interessierte über dein Wirken informieren? Wie können sie dich erreichen?

Per E Mail, über die Webseite (www.heilpraktikerinoeznuracar.org), Facebook, Instagram und auch telefonisch natürlich.

 

Gibt es noch etwas, was wir über dich oder deinen Beruf wissen sollten? 

Heilpraktiker*in sollte man nicht werden, weil es viele werden. Man sollte sich fragen, warum man diesen Beruf wählt. Meine Motivation war es nie, mir teure Geräte zuzulegen, die alles für mich machen. Sondern zu lernen und zu erspüren. Feingefühl zu entwickeln. Ich arbeite ausschließlich händisch und mit meinem gesunden Menschenverstand.

 

Öznur, vielen Dank für das spannende Interview.